und andere Geschichten)
AUSSCHNITTE:
ROLLER-RUDI oder WARUM MAN DEN BÄCKER GRÜSSEN SOLLTE
Der Bäcker in unserer Straße bäckt, wie viele Bäcker, manchmal vergiftetes Brot. Er weiß sich nicht anders zu helfen. Das verstehen die Leute in unserer Straße. Und kaufen woanders ihr Brot. Die meisten diesbezüglichen Todesfälle finden daher nicht in unserer Straße statt.
Ich bin wohl der Einzige in unserer Straße, der doch bei unserem Bäcker einkauft. Denn sein Brot ist im Grunde sehr gut. Wenn es nicht vergiftet ist. Mein Brot ist auch nie vergiftet. Denn ich grüße unseren Bäcker immer sehr freundlich.
Das mag er. Und ich weiß das.
Oft lache ich über die Leute in unserer Straße, die morgens um mehrere Häuserblocks gehen müssen, um zu ihrem Brot zu kommen. Einige haben ganz aufgehört zu frühstücken.
Besonders die Gehbehinderten.
Als ich dem Bäcker die Geschichte erzähle, lacht er grimmig und bietet mir sofort eine Semmel an. Ich lehne ab. Und verlasse grußlos den Laden. Der Bäcker, völlig irritiert, beißt entschlossen in besagte Semmel.
Wir haben jetzt keinen Bäcker mehr in unserer Straße.
Ich habe Glück gehabt.
Aber für die Gehbehinderten ist die Situation unverändert.
*
In einer nasskalten Novembernacht bin ich dieser kleinen Geschichte auf ungewöhnliche Weise wieder begegnet.
In meinem Lokal gab es einen Rollstuhlfahrer, der Rudi Winter hieß. Rudi war kein pflegeleichter Gast. Von einem Augenblick auf den anderen konnte er aus wilder Lebenslust in tiefe weinerliche Abgründe stürzen. Und umgekehrt. In diesen Exzessen seiner jäh auf und ab wallenden Stimmungen lernte ich nach und nach das wütende Aufbegehren eines Menschen zu entziffern, dessen Körper gefesselt ist an einen Stuhl mit zwei Speichenrädern.
Obwohl eine Hand verkrüppelt und unbrauchbar war, und sein karges Gefährt über keine motorischen Hilfen verfügte, bewegte sich Rudi Winter mit der verbliebenen nützlichen Hand so geschickt und behänd durch die engen Stuhlreihen des Lokals, als sei er mit seinem Rollstuhl verwachsen. Nur beim Rein- und Rausfahren über die zwei klobigen Steinstufen vor dem Lokaleingang, benötigte er Hilfe. Die er ohne Umschweife beim nächstbesten Gast oder vorbeieilenden Passanten einforderte.
Sich mit Rudi Winter zu unterhalten war eine Gratwanderung. Man wusste nie, ob er nicht im nächsten Moment in einen seiner Traurigkeitsschlünde kippte. Sich zusammenkrümmte, die verkrüppelte Hand mit seiner gesunden umschlang. Und bitterlich zu weinen anfing.
Ebenso übergangslos konnte er in exzentrisches Grölen verfallen. Stühle, die ihn bei der Fahrt zur Toilette provozierten, polternd beiseite werfen. Auch wenn sie ihm gar nicht im Weg standen. Dabei wurden Gläser und Geschirr von den Tischen gerissen. Die klirrend zu Bruch gingen.
Rudi Winter konnte sich urplötzlich in seinem Rollstuhl aufbäumen und Unflätiges durch den Raum brüllen. Stützte sich dabei mit seiner gesunden kräftigen Hand von seiner Rollstuhllehne ab. Ließ die verkrüppelte drohend kreisen. Und beschimpfte jeden, der sich in seiner Nähe befand. Worauf mich meine Mitarbeiter und die Gäste auffordernd ansahen. Sich dann kopfschüttelnd abwandten, wenn sie merkten, dass ich ihre Erwartung enttäuschte, diesen pöbelnden Störenfried, Rollstuhlfahrer hin oder her, endlich aus ihrem Umkreis zu entfernen.
Und Rudi strahlte.
Er spürte die Spannung zwischen den drängenden Gesten der Bedienungen, dem Unmut der Gäste und meiner eigenen Unschlüssigkeit, ja Unfähigkeit. Und genoss seinen Sieg. Oder was immer er dabei empfand. Er spürte, dass ich ihn niemals hinauswerfen würde, wie immer er sich auch aufführte. Und er nützte das leidlich aus.
Rudi Winter lachte anders als jeder, den ich kannte. Sein Lachen war ungestüm. Aufschreie gebremster Lebenskraft. Die sich steigerte. Bis sein ganzer Körper davon geschüttelt wurde. Um dann abrupt und völlig unerwartet in sich zusammenzufallen. Und gleichsam in ihr zu ersticken.
Rudis Lachen hatte aber auch etwas Diabolisches. Als wolle es ihn jeden Moment zum Platzen bringen. Und ihn als provokanten Vorwurf aus seinem Rollstuhl schleudern. Es explodierte aus seinem weit aufgerissenen Mund. Wie ein nicht enden wollender Donner auf einen nicht stattgefundenen Blitz. Sein Gesicht verzerrte sich zu einer Fratze. Die Pupillen so sehr in seinen Kopf hinein verdreht, dass sich nur noch das Weiße aus seinen Augenhöhlen wölbte. Er wand sich dabei so heftig in alle Richtungen, dass sein Rollstuhl bedrohlich hin und her schwankte.
Es schien, als habe sich all sein unterdrücktes Aufbegehren, Wut, Verzweiflung, Trotz und Traurigkeit in Gelächter verwandelt. Als berste nun dies alles auf einmal aus ihm heraus. Und wolle seinen verunstalteten Körper in Stücke reißen.
Lächelte Rudi aber, war sein Gesicht weich und zugewandt, ja weise. Seine Augen wissend und voller Demut. Als wäre er mit sich, der Welt und dem, was er zu tragen hatte, vollkommen im Reinen. Und als meine er, jedem, der sich in diesem Augenblick in seiner Nähe befand, vergeben zu müssen, was ihm vom Schicksal aufgeladen worden war….
AVE MARIA
Schon als ich mich durch die Kirchgasse, von der Neustadt kommend, auf die Altstadt zu bewege, höre ich die Stimme, die auf mich zuweht. An der Martinskirche angekommen, lasse ich meinen Blick lange schweifen. Kann jedoch niemanden ausfindig machen, zu dem eine so gewaltige Stimme passen würde.
Erst nach einer Weile sehe ich ihn. Ein ausgemergelt wirkender Mann steht vor der Buchhandlung Hugendubel.
Ich muss mehrere Male hinschauen. Die Haltung, die Kopfbewegungen, die Hand, mit der er vor sich herschwingt. Alles deutet daraufhin. Die Stimme scheint aus diesem dürren Körper zu tönen.
Ich habe immer ein paar Münzen für Straßenmusiker in der Tasche. Ihnen gehört von jeher meine große Sympathie. Ich gehe auf den Mann zu. Als ich mich ihm nähere, klingt der Gesang seltsamerweise nicht lauter. Es ist, als schwebe seine Stimme gleichmäßig über der ganzen Altstadt.
Jetzt bin ich nur noch wenige Meter von ihm entfernt.
Kein Zweifel. Die Stimme kommt aus seinem leicht geöffneten Mund.
Es ist ein Ave-Maria, wie ich es so noch nie gehört habe. Der Mann ist kein Italiener, das merke ich sofort. Zu lange habe ich in Italien gelebt. Es scheint als bemühe er sich, die Konsonanten gleichsam zu überspringen, um schneller auf die Vokale überzugehen. Um dann ausführlich auf ihnen verweilen zu dürfen.
Ich habe Schuberts Ave-Maria gar nicht sofort erkannt.
Der in einem schäbigen Anzug steckende Mann verleiht diesem seinem ungewöhnlichen Ave-Maria eine Tiefe, die diesem viel zu oft gehörten und in viel zu vielen Anlässen verbrauchten Lied neues Leben einhaucht. Die Melodie scheint wie von selbst aus ihm herauszuströmen. Und erst durch die schwingenden Bewegungen seiner Arme und Hände ins Schweben gebracht und auf den Platz hinaus gehoben zu werden.
Ich bücke mich, um ihm ein paar Münzen zukommen zu lassen.
Zögere.
Der Mann hat weder eine Schachtel noch einen Hut vor sich. Und kann ich diese wunderbaren Töne mit ein paar Euro abgelten? Denke ich. Und will er für sein Singen überhaupt bezahlt werden? Und falls ja, was wäre der angemessene Preis dafür?
In dem Moment, in dem ich mich wieder aufrichte und die schon in meiner Hand liegenden Münzen wieder in meine Hosentasche zurückstecken will, bricht der Gesang plötzlich ab. Als habe jemand einen schwingenden Ton gewaltsam gekappt. Wie ein Schnitt durch ein straff gespanntes Seil.
Die Melodie steht still.
Einen kurzen Augenblick lang fallen alle Geräusche, die sonst noch den Platz belebt haben, in ein sich ausweitendes Loch erschrockener Stille……
Dann katapultieren sich die Stimmen, das Klappern, das Scheppern, das Quietschen, das Lachen von Kindern und vereinzeltes Hundegebell wieder aus der Stille heraus. Nun jedoch ohne das eben noch darüber schwebende wunderliche Ave-Maria.
EIN KIND AUF DER LEOPOLDSTRASSE
Ich spaziere auf der Leopoldstraße stadteinwärts. Ein weicher Sommerwind wiegt die hohen Pappeln hin und her. Der Himmel ist weiß und blau, wie wir Bayern ihn mögen. Auf den Fußgängerwegen, links und rechts der Straße, gibt es in etwa so viele Passanten wie auf der mehrspurigen Straße Autos fahren.
Vor mir sehe ich, wie ein Kleinkind aus einem Kinderwagen krabbelt. Es dreht sich ein paarmal um seine eigene Achse. Wackelt dann mit seinen kleinen krummen Beinchen glucksend in Richtung Fahrspuren. Ich schließe meine Augen. Öffne sie wieder. Ich habe mich nicht getäuscht. Erschrocken renne ich auf den Kinderwagen (ein ausgefallenes Modell mit zwei Gummigriffen) zu. Und schiebe ihn, ohne einen Blick hineinzuwerfen, im Laufschritt dem Kind hinterher.
Hinter mir kreischt eine Frauenstimme: „Haltet ihn auf! Haltet ihn um Gotteswillen auf!“
Das Kind hat die Straße inzwischen erreicht. Ich habe keine Zeit, mich nach der Ruferin umzusehen. Die Autofahrer weichen aus. Die meisten hupen. Bremsen ab. Und fahren kopfschüttelnd weiter. Ein Sportwagen bleibt stehen. Ein hochgewachsener Mann in T-Shirt und kurzer Hose steigt aus. Sein Kopf ist kahl. Und er trägt einen imposanten rötlichen Rauschebart, wie er gerade mal wieder in ist. Als er auf das Kind zugehen will, hört wohl auch er die fordernde Stimme.
„Haltet ihn auf!“
Er bleibt verdutzt stehen. Schaut abwechselnd auf das Kind, auf mich und auf den Kinderwagen. Vielleicht fragt er sich, wer hier aufgehalten werden soll.
Das Kind ist auf der Fahrspur angekommen. Auch hier bremsen die Fahrer ab. Das Kind hampelt, mit hochrotem Kopf, und mit beiden Armen rudernd, durch den stehenden Verkehr auf die nächste Fahrbahn zu. Ich bahne mir einen Weg durch die aufgestauten Fahrzeuge. Komme aber mit dem Kinderwagen nicht schnell genug voran.
Vielleicht ist es klüger, ohne den Wagen hinter dem Kind herzulaufen, denke ich. Doch einfach so zwischen den Autos will ich ihn jetzt auch nicht abstellen.
Inzwischen sind alle Fahrzeuge zum Stehen gekommen. Da auch die Fußgänger auf beiden Seiten innegehalten haben, herrscht eine außergewöhnliche Stille über der Leopoldstraße. Die nur durch die Rufe der Frau und das aufgeregte Quieken des Kindes unterbrochen wird….